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So reift das Ich

Die Persönlichkeit braucht Zeit zum Reifen und entwickelt sich bis ins hohe Alter

Die Persönlichkeitsentwicklung ist so vielschichtig und individuell wie der Mensch selbst. Etwa jeder Fünfte macht nach seinem 60. Geburtstag noch eine große Veränderung durch – einen Stillstand gibt es nach psychologischen Erkenntnissen in der Persönlichkeitsentwicklung nicht. Doch wie ein guter Wein, braucht sie Zeit zum Reifen.

VON JULIANE MOGHIMI

Ich wusste gar nicht, dass du dich für diese Themen interessierst“, unterbricht seine Schwiegertochter erstaunt, als Christoph Meißner lebhaft über die Auswirkungen der Klimapolitik auf die Menschen in der afrikanischen Sahelzone referiert. „Früher war das auch nicht so“, räumt der 74-Jährige ein. „Aber seit dem Beginn der Corona-Pandemie schaue ich jeden Abend die Nachrichten, verfolge die Talkshows im Fernsehen und versuche, mir auch sonst ein Bild von dem zu machen, was in der Welt vor sich geht.“

Der Schwiegertochter ist bei ihren letzten Besuchen bereits aufgefallen, dass häufiger als früher eine Tageszeitung auf dem Tisch liegt. „Es ist toll, dass du noch neue Einstellungen und Werte an dir entdeckst“, findet sie. „Dabei heißt es immer, dass die Persönlichkeit eines Menschen mit 30 feststeht.“

 

Erkenntnisse zur Entwicklung der Persönlichkeit im Alter

Christoph Meißners Schwiegertochter hat recht: Selbst viele Fachleute dachten bis vor etwa zehn Jahren, dass sich der Charakter des Menschen ab einem gewissen Alter nicht mehr verändere. Diese Annahmen beruhen maßgeblich auf den Untersuchungen der beiden US-amerikanischen Persönlichkeitspsychologen Paul Costa und Robert McCrae.

In den 1980er und 1990er-Jahren entwickelten sie auf der Basis des Big-Five-Modells (siehe Infokasten) umfangreiche Testverfahren und gelangten schließlich zu der Auffassung, dass die Persönlichkeit nach dem 30. Lebensjahr unveränderlich feststehe.

Aber im Jahr 2011 deckte eine deutsche Studie Erstaunliches auf. Ein Team um Prof. Jule Specht, Persönlichkeitspsychologin an der Freien Universität Berlin, befragte fast 15000 erwachsene Menschen aller Altersgruppen.

2018 veröffentlichte sie das Buch „Charakterfrage. Wer wir sind und wie wir uns verändern“. Dabei entdeckten die Psychologen nicht nur, dass sich die Persönlichkeit ein Leben lang entwickelt, sondern auch, dass es hierfür zwei besonders aktive Phasen gibt: die Zeit bis zum 30. und die ab dem 60. Lebensjahr.

Die fünf Säulen unserer Persönlichkeit

Die Big Five beschreiben ein Modell der Persönlichkeitspsychologie, das ab den 1930er-Jahren in den USA entwickelt und über Jahrzehnte durch Tausende Studien belegt wurde. Bis heute gilt es international als Standardmodell.

Demnach setzt sich die Persönlichkeit eines jeden Menschen, egal welcher Kultur er angehört, aus fünf Faktoren zusammen:

  • Offenheit für neue Erfahrungen
  • Gewissenhaftigkeit
  • Extraversion (Geselligkeit)
  • Verträglichkeit
  • emotionale Stabilität (Neurotizismus)

Jeder dieser Faktoren kann stärker oder schwächer ausgeprägt sein. So entsteht unsere individuelle Persönlichkeit.

 

(Quelle: Langzeitstudie der Psychologin Eileen Graham von der Northwestern University in Illinois)

Gemeinsam älter werden und neue Seiten aneinander kennenlernen

Etwa jeder Fünfte verändert sich nach dem 60. Geburtstag sogar noch einmal stark. In fast allen anderen Fällen finden kleinere Veränderungen statt – so wie bei Christoph Meißner, der offener für das geworden ist, was außerhalb seines Lebensumfelds geschieht. Besonders häufig war festzustellen, dass Menschen im Alter rücksichtsvoller mit anderen umgehen.

Noch größer angelegt war ein Projekt unter Leitung von Eileen Graham, Psychologieprofessorin an der Northwestern University in Illinois, dessen Ergebnisse im Mai 2020 veröffentlicht wurden. Gemeinsam mit ihrem Team wertete sie 16 amerikanische und europäische Langzeitstudien mit insgesamt mehr als 60000 Teilnehmern aus.

 

© istockphoto.com/shironosov

Die Analyse zeigte, dass die meisten Menschen mit zunehmendem Alter weniger neurotisch, extrovertiert, perfektionistisch und offen für Neues sind, während – wie schon Jule Specht beschrieb – die Verträglichkeit zunimmt.

Allerdings beobachtete Eileen Graham auch, dass manche Menschen über 70 eine Kehrtwende machen und dann zum Beispiel wieder geselliger, offener oder auch ängstlicher werden. 

Die individuelle Persönlichkeit braucht Zeit zum Reifen

Letztendlich gestaltet sich die Persönlichkeitsentwicklung ebenso vielschichtig und individuell wie der Mensch selbst. Es ist also normal, wenn auch im höheren Lebensalter Phasen auftreten, in denen wir uns hinterfragen. 

Wie ein guter Wein reift die Persönlichkeit mit den Jahren. Das bedeutet aber auch: Bis ins hohe Alter können wir unser Leben noch einmal neu ordnen und an Herausforderungen wachsen. Es ist nie zu spät, die eigenen Potenziale auszuloten und positive Veränderungen zu bewirken. Gelingen kann das, wenn wir uns auf Neues einlassen – so wie Christoph Meißner.

 

Erstveröffentlichung des Beitrags im GDA-Magazin "Meine Zeit" | Ausgabe 01-2021 mit dem Titel “Wie guter Wein: So reift das Ich”

 

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