Ein Spaziergang weckt die Lebensgeister und macht glücklich.
Wer spazieren geht, dem öffnen sich die Sinne und damit die Welt. Ob Wald und Feld oder Stadt: Überall warten Entdeckungen. Und gesund ist der gemächliche Gang auch noch.
VON EVELYN BEYER
An manchen Tagen ist es Genuss pur. Die Sonne scheint mild, ein sanfter Wind streichelt das Gesicht, Vögel zwitschern im Gebüsch, Bienen und Hummeln summen von Blüte zu Blüte. Da geht man gern ein Ründchen mehr, gönnt sich einen Schlenker zur Lieblingsbank. Da spaziert es sich wie von selbst. Dann gibt es die anderen Tage, an denen das Wolkengrau sich lähmend auf die Seele legt und man nur pflichtschuldig in Mantel und Kopfbedeckung schlüpft – Bewegung muss sein. Doch auf einmal ist es draußen heller als erwartet, der kalte Wind ist belebend, die Weite des Himmels lässt aufatmen und man ist herzlich froh, dass man sich aufgemacht hat.
Spazieren ist laut Duden „gemächlich (ohne bestimmtes Ziel) gehen, schlendern“. Wunderschön hat Goethe das schon beschrieben: „Ich ging im Walde / So für mich hin, / Und nichts zu suchen,/ Das war mein Sinn.“ Das Gedicht heißt „Gefunden“, denn der Spazierende entdeckt ein Blümchen. Wer absichtslos umherstreift, öffnet die Sinne für die Umgebung, ganz gleich, ob in Wald und Feld oder auf Straßen und Plätzen.
Das emsige Treiben der Natur entdecken
Blüten zeigen sich jetzt überall, Maiglöckchen läuten den Sommer ein, Flieder und Bäume duften, Klatschmohn, Kornblume und bunte Schafgarbe schmücken Wegränder, Wildgärten und sogar Verkehrsinseln. Sie ziehen Insekten an, die Honigbiene kennt jeder, aber vielleicht brummt eine dicke, blauschwarze Holzbiene um den Salbei? Oder saugt ein Admiral-Schmetterling an den Brombeerblüten? Über den glitzernden Teich paddeln vielleicht wuschelige Entenküken, hoch im Nest sperren kleine Störche die Schnäbel auf.
Beobachtet man, was blüht und liegt im Reigen der Jahreszeiten, gehen sich die empfohlenen täglichen Schritte wie von selbst. 150 Minuten moderate Bewegung pro Woche sollen es laut Weltgesundheitsorganisation WHO sein, fünfmal 30 Minuten lang, je etwa 3000 gemächliche Schritte.
Unbefangenes Umherschweifen inspiriert den Geist
Inspirierend ist das Spazieren gerade wegen seiner absichtslosen Leichtigkeit: Wenn etwas sprichwörtlich ein Spaziergang ist, geht es wie von selbst. Das Wandern dagegen ist zielgerichteter; dem Flanieren haftet eine kulturelle Geste an: Es wird städtisch gepflegt ausgeübt. Darauf kann der Spaziergang verzichten. Nur sonntags schaute er lange auf die eigene Präsentation, auf Mantel, Hut und Handschuhe. Das hat sich heute weitgehend erledigt. Eine demokratische Angelegenheit war der Spaziergang immer, jedermann zugänglich.
„Sich räumlich ausbreiten, umherschweifen“: So lässt sich das italienische „spaziare“ übersetzen, aus dem unser Spazieren wurde. Es geht um körperliche Raumerfahrung, und die erhob der Soziologe Lucius Burckhardt 1976 zur Wissenschaft. Die Promenadologie soll die Umgebung in die Erfahrung der Menschen zurückholen und so Erkenntnisse für die Stadt- und Raumplanung gewinnen. Denn auch zwischen städtischen Mauern lässt sich umherschweifen. Gründerzeit- und Jugendstilhäuser, Kirchen und Plätze sind architektonisch spannend. Schaufensterauslagen oder Vorgärtenanpflanzungen spiegeln den Geschmack der Zeit.
Ein Spaziergang bietet Anlass zu geselligem Austausch
Beim Gehen kann man Ruhe und Alleinsein genießen – oder Geselligkeit und Austausch, mit Abstand und Maske auch in Pandemiezeiten. Große Entscheidungen wurden schon im Gehen getroffen, die Gespräche bleiben wie der Körper in Bewegung, können in die Tiefe gehen. Und wer gern menschlichem Treiben zuschaut, findet tobende, lachende Kinder auf Spielplätzen und trifft, nicht zuletzt, andere Bummler. Und vielleicht bringt man sich ein Stück Spaziergang für daheim mit.